Warum fällt das mit der LRS eigentlich erst so spät auf?

Meistens werden Kinder etwa in der dritten Grundschulklasse oder in der fünften Klasse auffällig.

Warum ist das so?
Warum merkt niemand vorher, dass dein Kind etwas anders lernt?
Andere Wege braucht, um sich Dinge zu merken?

Die Erklärung ist ganz einfach:

In der ersten und zweiten Klasse wird Rechtschreibung überhaupt nicht kontrolliert!

„Aber die schreiben doch schon Diktate in der zweiten…“ willst du jetzt sagen.
Richtig.
Tun sie.
Und doch geht es dabei nicht um Rechtschreibung.
Sondern nur um das Erinnerungsvermögen.

Erklärung:
In den ersten beiden Grundschuljahren werden Diktate oft bis zum Überdruss geübt.
Da wird immer und immer wieder der gleiche Text geschrieben.
Den können die Kinder in der Regel schon längst auswendig.

Ich erinnere mich daran, als unser Sohn mir ganz wichtig erklärte, dass seine Lehrerin doof sei.
Auf meine Nachfrage kam folgendes:
„Also wir haben heute ein Diktat geschrieben.
Die war so langsam.
Die war erst bei der Hälfte, da hatte ich meins schon fertig.“
Dem ist doch nichts hinzuzufügen, oder?

Wie schaffen es die Kinder, in dieser Zeit nicht aufzufallen?

Sie legen sich Strategien zurecht.
Wenn sie merken, dass ein Wort schwierig ist, dann prägen sie sich das Wort ganz besonders ein.
Wie sie das tun, ist jetzt an dieser Stelle gar nicht so wichtig.

Aber sei sicher:
Die Kinder lernen einen Text nicht nur auswendig.
Sie wissen auch ganz genau, an welcher Stelle im Text diese Krampfwörter kommen.
Und wie sie damit umgehen müssen.

Später sprechen wir dann von Ersatzstrategien.
Aber dazu kommen wir noch.

Was passiert denn dann nun in der dritten Klasse?

Ganz einfach:

Da werden Satzstellungen verändert.

Diktate werden nicht mehr immer unverändert geschrieben.

Im Gegenteil:
Der vorher perfekt eingeübte Text wird erst während des Diktates verändert.

"Das ist ja gemein."
So empfindet das dein Kind.
Und die bisher so nette Lehrerin wird plötzlich gar nicht mehr als so nett empfunden.

Alle Strategien, die sich dein Kind angeeignet hat, funktionieren plötzlich nicht mehr.
So ein Mist.

Für uns das vertrackte daran?
Ganz einfach:
Wir erkennen nicht, mit welchen Strategien unser Kind arbeitet.
Und zwar so lange nicht, wie das Ergebnis stimmt.
Wir haben also überhaupt keinen Grund, uns Gedanken zu machen…

Manchmal klappt es mit den Strategien auch länger.
Die Gründe dafür sind an dieser Stelle jetzt wieder nicht so wichtig.
Aber vielen Kindern gelingt es halt die ganze Grundschulzeit über, mit diesen Strategien zu schreiben.
Es ist zwar nicht immer alles richtig geschrieben.
Aber es sind zu wenig Fehler um dadurch aufzufallen.

In der weiterführenden Schule ist dann plötzlich alles ganz anders:
Der Lehrer schreibt erst einmal ein Diktat.
'Um den Leistungsstand der Klasse festzustellen', geben die Lehrer als Begründung.
Dabei ist dann aber nichts geübt.
Vielleicht hat der Lehrer noch nicht einmal am Tag vorher gesagt, dass er ein Diktat schreiben wird.
Und selbst wenn… wie hätte dein Kind sich denn vorbereiten sollen?
Ohne jeden Plan, welcher Text diktiert werden wird?

Und alle Strategien, mit denen dein Kind bisher gearbeitet hat, funktionieren in dem Moment überhaupt nicht mehr.
Keine einzige.
Nada.
Niente.
Und plötzlich hat ein Kind 18 Fehler im Diktat.
Sonst waren es doch immer nur drei.
Oder vier.
Oder auch mal fünf.

Und wenn es ganz hart kommt, schreibt der Lehrer eine 5 oder eine 6 darunter.
Da ist nichts mehr mit Stempelchen.
Oder aufmunternden Kommentaren.
Im Gegenteil.
Oft nutzen Lehrer das Ergebnis des ersten Diktates um die Klasse niederzumachen.
Das kommt dir vielleicht unwahrscheinlich vor. Mir haben aber Kinder davon erzählt, dass es in ihrer Klasse genau so war…

Beim ersten Diktat tun wir das gerne noch als „Ausrutscher“ ab.

Ist ja auch ein neuer Lehrer.
Vielleicht war unser Kind an dem Tag einfach nicht gut drauf.
Oder der Text war für die Klasse einfach nicht geeignet.
Zu anspruchsvoll.
Es sind ja schließlich ganz viele Diktate mit vielen Fehlern geschrieben worden…

Das ist aber nur ein kurzer Trost.

Ein Problem wird ja nicht dadurch kleiner,
weil ganz viele andere es auch haben…

Und auch dieser Lehrer ist eher hilflos.
Früher war ich eher sauer auf die Lehrer.
Habe sie für unfähig gehalten.
Für unsensibel.
Für … was weiß ich noch alles… ;-)

Lass uns mal zusammen durch die Augen des Lehrers schauen:

Da hat er eine neue Klasse.
Aus unzähligen verschiedenen Schulen.
Von keiner Schule weiß er, wie gut die Kinder Lesen und Schreiben gelernt haben.

Was bleibt ihm da anderes, als einen Test zu schreiben?
Und er nimmt einen Text, den er für angemessen hält.

Und er ist selber erschrocken, als er bemerkt, dass ganz viele Kinder echt viele Fehler gemacht haben.

Jetzt ist er in einem Dilemma:
Er merkt, dass etwas nicht stimmt.
Aber auch er weiß nicht, was er tun soll.

Auch ihm hat nämlich niemand im Verlauf des Studiums gesagt, wie er mit auffälligen Kindern umgehen soll.
Das ist leider Fakt in den Ausbildungsplänen der Universitäten.
Manchmal werden Kurse zu LRS oder Legasthenie angeboten – meist sind diese aber nicht verpflichtend.

Versteh mich jetzt nicht falsch:
Ich glaube, dass unsere Lehrer toll ausgebildet sind.
Was das fachliche anbelangt.
Aber die Didaktik kommt an unseren Unis oft zu kurz.
Ist leider einfach so.
Auch dieser Lehrer spricht Eltern an, dass sie mit ihrem Kind etwas tun sollten.
Und auch er sagt nicht konkret, was genau wir machen sollen…

Fazit:
Oft steht unseren Kindern ihre eigene Intelligenz im Weg.
Wenn sie pfiffig genug sind, dann lassen sie uns eine echt lange Zeit in dem Glauben, dass alles in Ordnung ist.
Und wenn es dann auffällt, dann bricht eine Welt zusammen.
Für uns.
Aber vor allen Dingen auch für unsere Kinder.
Die erleben nämlich in dem Moment, dass all die Mühe umsonst ist.

Wissenschaftlich ist es übrigens nachgewiesen, dass LRS-auffällige Kinder bis zu dreimal mehr Energie verbrauchen. Und dabei erreichen sie oft schlechtere Ergebnisse als die anderen…